Rarität des Monats September 2016
Die Auswahl an Berlin-Filmen, die in den Kinos wie im Fernsehen läuft, wird immer kleiner. Das Filmbild der Stadt wird dementsprechend von immer weniger Werken geprägt. Und immer mehr Berlin-Filme, darunter auch bedeutende, geraten in Vergessenheit.
Deshalb und um zu zeigen, daß Berlin-Film-Katalog nicht nur auf Geld wartet, gibt es den Jour fixe des selten gezeigten Berlin-Films: Seit Juni 2012 wird jeweils am zweiten Montag im Monat im Brotfabrikkino eine Berlin-Film-Rarität präsentiert.
Vom 9.-14. September 2016 um 18 Uhr (am 12. in Anwesenheit von Christian Ziewer und Clara Burckner) lief
Schneeglöckchen blühn im September
BRD 1973/1974 – 108 Min. (1164 m) – 16 mm (1:1,33) – Farbe
Regie: Christian Ziewer. Buch: Klaus Wiese, Christian Ziewer. Musik und Liedtexte: Lokomotive Kreuzberg. „Tatjana“: Text: Erwin L. Höhne, Gesang: Hajo Grains. Kamera: Kurt Weber, Uli Heiser. Ton: Hayo von Zündt, Edward Parente. Schnitt: Stefanie Wilke, Henrietta Loch. Beleuchtung: Jürgen Kaschewsky, Gunther Stallmann. Standphoto: Heide Woicke. Requisite: Herbert Klüver, Marcel Stoll, Rainer Civegna. Maske: Traute Koller. Skript: Sigi Stecher. Aufnahmeleitung: Hans-Peter Appel, Rainer-Götz Otto. Produktionsassistenz: Clara Burckner, Karin Krueger-Lafferentz.
In Zusammenarbeit mit Arbeitern und Angestellten der Rheinstahl Gießerei Meiderich, Hanomag Hannover, Waggonunion Berlin.
Die Darsteller der Akkordkolonne: Claus Eberth, Wolfgang Liere, Hans-Peter Fischer, Gerhard Konzack, Wiegand Krätzmann, Kurt Michler, Michael Pagels, Horst Pinnow, Helmut Schinke. In weiteren Rollen: Heinz Giese, Klaus Stieringer, Horst Lange, Friedrich W. Bauschulte, Hans Rickmann, Claus Jurichs, Manfred Meurer, Karin Siefart, Nikolaus Dutsch, Wolfgang Wagner, Heike Lange, Udo Langen, Erika Skrotzki, Barbara Morawiecz, Horst Kammrad, Dieter Riedel, Erwin Opitz, Evelyn Koyro, Carla Rhode, Alfred Lukaß, Jutta Schöler, Hannelore Speth, Erhard Dhein, Andi Rutkowski, Gerhard Dube, Heinz Michaelis, Heinz Herrmann, Alexander Bzik, Dieter Beck, Wolfgang Meyer, Gerhard Winkler, Kurt Zinke, Günther Gericke, Burkhard Backhaus, Hans-Günter Nagel, Peter John und viele andere.
Produktion: Basis-Film Berlin. Koproduktion: WDR Köln. Produktionsleitung: Regina Otto-Gundelach. Redaktion: Joachim von Mengershausen.
Verleih: Basis-Film.
Uraufführung: 24. Juni 1974, Berlin, Atelier am Zoo (heute Zoo-Palast Kino 2; Internationales Forum des Jungen Films der Berlinale).
Dies ist die Geschichte von zwei Arbeitern: dem jungen Akkordarbeiter Ed und dem Vertrauensmann Hannes. Es ist auch die Geschichte eines großen Betriebes und seiner Belegschaft.
So wurde Christian Ziewers 1974 uraufgeführter Spielfilm „Schneeglöckchen blühn im September“ einst angekündigt, ein herausragender Vertreter der (West-) „Berliner Arbeiterfilme“ der siebziger Jahre. Heute werden diese Produktionen – wenn sie überhaupt noch wahrgenommen werden – gern belächelt als (auch in ihrer angeblichen Untauglichkeit) zeittypische Versuche Intellektueller, die Proletarier zu agitieren. Häufig beruht diese Einschätzung auf einem Vorurteil – wie es wiederum für unsere Zeit typisch ist – und auf schlichter Unkenntnis.
Um so überraschter ist man, wenn man (wieder-) sieht, auf wie erstaunlich spannende Weise Ziewer (der im April 2016 seinen 75. Geburtstag feierte) in „Schneeglöckchen blühn im September“ schildert, wie Arbeiter in einem metallverarbeitenden Betrieb sich gegen Lohndrückerei, die Verlagerung ihrer Fabrik, drohenden Arbeitsplatzverlust und andere Pläne ihres Arbeitgebers wehren. Dabei werden keine „Arbeiterhelden“ gezeichnet, sondern Menschen voller Fehler und Ängsten, mit Hobbies und Familienleben. Und es wird auch gezeigt, welche Probleme und Rückschläge es gibt, bis die Arbeiter ihren punktuellen, momentanen Sieg erringen: Daß schließlich doch Solidarität unter ihnen entsteht, ist fast so ein Wunder, wie Schneeglöckchen, die im September blühen. (Zugleich bezieht sich der Titel auf die wilden, also irregulären „Septemberstreiks“, die 1969 die BRD erschütterten.)
Wo in Deutschland sich dieses Geschehen abspielt, ergibt sich bei diesem Film – dem mittleren Teil einer Trilogie, zu der auch „Liebe Mutter, mir geht es gut“ und „Der aufrechte Gang“ gehören – vor allem aus dem von fast allen Figuren ausgiebig und originalgetreu gesprochenen Berliner Dialekt.
Dem Anspruch der Filmemacher gemäß, entstand auch dieses Werk nicht nur in engem Kontakt mit Arbeitern und wurde anschließend mit ihnen besprochen; auch vor der Kamera agierten zum Teil Laien. Die Musik schrieb die Politrockband Lokomotive Kreuzberg, deren Mitglieder Bernhard Potschka, Manfred Praeker und (ab 1976) Herwig Mitteregger 1978 die Nina Hagen Band mitgründeten, aus der dann Spliff wurde.
„Schneeglöckchen blühn im September“ wurde seinerzeit viel gelobt und lief nicht nur im Kino, sondern bereits am 12. November 1974 auch erstmals im Fernsehen. Heute kann diese Produktion auch als Erinnerung daran dienen, wie wenig die „Arbeitswelt“ im deutschen Spielfilm inzwischen noch auftaucht, obwohl sich in den vergangenen vierzig Jahren zwar manche Schauplätze und Rahmenbedingungen geändert haben, aber kaum die Grundprobleme.
Wir zeigen „Schneeglöckchen blühn im September“ als ein exzellentes Beispiel für die „Berliner Arbeiterfilme“, die seinerzeit auch als „Berliner Schule“ bezeichnet wurden, und das leider ebenso in Vergessenheit geraten und nur noch sehr selten zu sehen ist wie die anderen Produktionen dieser Art.
Unser Flyer zu dieser Rarität. Sie dürfen ihn gern herunterladen, ausdrucken, verteilen oder einrahmen und an die Wand hängen.
Das sechsseitige Infoblatt des Berlinale-Forums 1974 mit viel Material finden Sie hier, die Besprechung von Wolfgang Ruf in der „Zeit“ Nr. 28 vom 5. Juli 1974 hier, was Wolf Donner in der gleichen Ausgabe zu dem Film schrieb hier, und die Rezension im „Spiegel“ Nr. 25/1974 hier.
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J.G.
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Quellen der filmographischen Angaben: Regie, Buch, Filmformat, Filmlänge in Minuten, Uraufführung: Informationsblatt des Internationalen Forums des Jungen Films 1974 (der Abspann nennt „Ein Film von Klaus Wiese und Christian Ziewer“ und unter Regie: Christian Ziewer, Klaus Wiese, Christian Wagner). Filmlänge in Metern: http://www.filmportal.de/film/schneegloeckchen-bluehn-im-september_051b4146b77b43d49b50b529017a3c92 (besucht am 24.8.2016). Ort der Uraufführung: Frankfurter Rundschau vom 28.6.1974. Alle anderen Angaben: Originalabspann.
Bilder: Basis-Film.