Berlin-Film-Katalog

(in Vorbereitung)

Rarität des Monats September 2019

Die Auswahl an Berlin-Filmen, die in den Kinos wie im Fernsehen läuft, wird immer kleiner. Das Filmbild der Stadt wird dementsprechend von immer weniger Werken geprägt. Und immer mehr Berlin-Filme, darunter auch bedeutende, geraten in Vergessenheit.

Deshalb und um zu zeigen, daß Berlin-Film-Katalog nicht nur auf Geld wartet, gibt es den Jour fixe des selten gezeigten Berlin-Films: Seit Juni 2012 wird jeweils am zweiten Montag im Monat im Brotfabrikkino eine Berlin-Film-Rarität präsentiert.

Vom 5.-11. September 2019 um 18 Uhr (am 9. in Anwesenheit von Lilly Grote, Julia Kunert und Yvonne Loquens) lief


Berlin, Bahnhof Friedrichstraße, 1990

BRD 1990/1991 – 85 Min. – 16 mm (1:1,37) – Farbe 

Realisation: Konstanze Binder, Lilly Grote, Ulrike Herdin, Julia Kunert. Musik: Jon Rose. Schnitt: Yvonne Loquens. Au­f­nahmeleitung: Madeleine Bernstorff. Ton: Maureen Herzfeld-Bergas, Maria Lang. Mischung: Martin Steyer. Redaktion: Annedore von Donop.

Mit Ula Stöckl, Jon Rose, Jörg Foth, Herwig Kipping, Christian Noack, Marianne Staedtefeld.

Produktion: SO 36 Film GbR Ulrike Herdin/Lilly Grote im Auftrag des ZDF.

Uraufführung: 17. Februar 1991, Berlin, Akademie der Künste (Internationale Filmfestspiele, Internationales Forum des Jungen Films).

Erstausstrahlung: 19. Februar 1991, 22.55 Uhr, ZDF.

Kinostart: 20. April 1995.

Erstverleih: Salzgeber


Mit dem Mauerbau 1961 wurde der Ost-Berliner Bahnhof Friedrichstraße zu einem der seltsamsten Orte der deutschen Teilung: Wegen seiner guten Er­reich­­bar­keit mit U- und S-Bahn, aber auch weil nur hier zugleich West-Berliner, West­deut­sche und Ausländer die Sektorengrenze passieren durften, war er der am meisten frequen­tierte innerstädtische Kontrollpunkt. Daneben konnte man hier, mitten in Ost-­Berlin, völlig unkontrolliert zwischen Linien der West-Berliner S- und U-Bahn umsteigen. Und, für viele West-Berliner, aber auch für die stets nach Devisen dürstende DDR sehr viel wichtiger, man konnte an mehr als einem Dutzend Intershop-Kiosken gegen Westmark unversteu­erte Spirituosen und Tabakwaren kau­fen, wovon reichlich Gebrauch ge­macht wurde. Da westliche Kontrollen erst auf westlichem Gebiet und außerdem nur stichproben­artig möglich waren, war der Bahnhof Fried­rich­straße zudem ein offenes Tor für Ostspione, aber auch für Asylbewerber und andere Ausländer, die oft über den Ost-Berliner Flughafen Schönefeld gekommen waren.

Dreißig Jahre nach dem Mauerfall erinnert an all dies nur noch der „Trä­nen­­­palast“, die kurz nach dem Mauerbau errichtete, jetzt museal genutzte Abferti­gungs­halle für die „Aus­reise“ aus dem Osten. Der oberirdische Teil des Bahn­hofs Friedrich­straße wur­de vollstän­dig „entkernt“ und dabei nahezu sämtlicher Ge­schichtsspuren be­raubt, die zwei oberirdischen und zwei unterirdischen Bahnsteighallen erhielten ebenso wie die Zwischengeschosse und Verbindungsgänge ein neues Aussehen.

Um so bedeutender ist der abendfüllende Dokumentarfilm, den Konstanze Bin­der, Lilly Grote, Ulrike Herdin und Julia Kunert im Laufe des Jahres 1990 im, am und über den Bahnhof Friedrichstraße drehen konnten. Dort, wo bis dahin allenfalls der Stasi und anderen DDR-„Organen“ Aufnahmen erlaubt waren, hielten die Filmemacherinnen einen Zu­stand fest, der nur kurz existierte: Die Grenze war geöffnet worden, die Kontrollen wurden immer laxer, die umfangreichen dafür errichteten Anlagen all­mählich ab­ge­baut. Unterbrochene Verbindungen wurden wiederhergestellt, seit fast dreißig Jahren vermauerte Wege wieder geöffnet. Uni­formierte – bis dahin nahezu all­mäch­tig und gefürch­tet, nun Vertreter eines ge­schei­terten Staates – erläuterten noch einmal ihre „Arbeit mit Menschen“ und wie um­fang­reich man sich in der DDR etwa mit der Form von Ohrmuscheln be­schäf­tigte. Ansonsten zeigten sie sich stark verunsichert. Neben der – verbal nicht kommentierten – Be­­ob­achtung des aktuellen Treibens auf dem Bahnhof blickten die Filme­mache­rinnen auch zurück auf den Mauerbau und auf die Zeit der Teilung. Zum Beispiel berichtete ein Musiker von absurden Auseinandersetzungen mit Zollbeamten über sein Cello und die Frage, wieviele Saiten dieses haben dürfte.

So entstand ein bedeutendes Dokument, das unverständlicherweise nach seiner Uraufführung im Berli­nale-Forum 1991, zwei Fern­­seh­ausstrahlungen so­wie einem kurzen Kinoeinsatz Mitte der neunziger Jahre fast in Ver­ges­senheit geraten ist. Zum nahenden drei­ßig­sten Jahres­­tag des Mauerfalls ermöglicht Berlin-Film-Katalog es, diesen Film – der noch nicht auf DVD oder Blu-ray erschienen ist – wiederzuentdecken.


Unser Flyer zu dieser Rarität. Sie dürfen ihn gern herunterladen, ausdrucken, verteilen oder einrahmen und an die Wand hängen.

Mehr zu dem Film hier.





Presseinformation des ZDF

Redaktion Das kleine Fernsehspiel zur Ausstrahlung am 13. August 2001, 0.50 Uhr, 3sat

Vier Filmemacherinnen, zwei aus Berlin Ost und zwei aus Berlin West, beobachten mit der Kamera den Grenzabbau am Bahnhof Berlin Friedrichstraße. Dabei kommen Menschen zu Wort, die dort arbeiten oder auf der Durchreise sind. „Berlin, Bahnhof Friedrichstraße 1990“ wurde zu einem wertvollen historischen Dokument.

Am Anfang des Films ist der Bahnhof Berlin – Friedrichstraße der „Grenzbahnhof“ im Ostteil der Stadt, zu dem er durch den Bau der Berliner Mauer 1961 geworden war. Von Grenzposten schwer bewacht, war er das Nadelöhr, durch das sich alle Reisenden von West nach Ost, von Ost nach West fädeln mussten.

Jeder, der vor dem 9. November 1989 die Grenze hier passierte, assoziiert damit: langes Warten, Schweiß, Geruch, Hitze und die ständige Angst, irgend etwas falsch zu machen. Vor dem 9. Nov. 1989 durfte weder auf Bahnhöfen noch an der Grenze gefilmt werden. Die ursprüngliche Strenge der Grenzkontrolle ist nicht mehr vorhanden. Aber noch im Juni 1990 werden Fernzüge kontrolliert, sind die Schienen von Ost nach West unterbrochen, der Weg über die Grenze führt durch ein Labyrinth von Gängen, Treppen, Tunneln und Schleusen. Die Grenze als Anlage erinnert an das Gefühl des Ausgeliefertseins, obwohl Kabinen, Ka­meras, Spiegel und Röntgengeräte nun fast ohne Funktion sind. Der Film beschreibt den kurzen Moment des Umbaus unmittelbar.

Es werden Gespräche mit den Menschen geführt, die am Bahnhof arbeiten und für die das Verschwinden der Grenze zu einer existentiellen Frage wird, auch Ge­sprä­che mit Personen, die die Grenze passieren. In dieser Zeit ist der Bahnhof voll von Osteuropäern. Für viele von ihnen ist es die erste Gelegenheit, über die DDR auch nach West-Berlin zu kommen. Es wird im Detail beobachtet, wie sich die Architektur des Bahnhofs durch den Grenz­abbau verändert und er sein ursprüngliches Aus­sehen zurück gewinnt.

Am Ende des Films war die eiserne Trennwand zwischen Ost- und Westbahnsteigen abgebaut. Die Bahnhofshalle, die als solche nicht wahrzunehmen war, ist wieder eine Halle. Die Schienen von Ost nach West sind verbunden. Die Fernzüge werden nicht mehr kontrolliert. Alle ver­mau­­erten Durchgänge sind frei. Das Gewirr der Men­schen aus den verschiedensten Ländern, die im Juni 1990 das Bild geprägt haben, ist wie weg gefegt. Der Bahnhof Friedrichstraße ist wieder ein gewöhnlicher „Umsteigebahnhof“ im Herzen Berlins.

(...)

Der Film entstand als gemeinsames Projekt von vier Filmemacherinnen. Jede ar­beitete als Autorin, Regisseurin und Kamerafrau. Ziel der gemeinsamen Arbeit war, die einzelnen Handschriften zu einem in sich geschlossenen Film zu verschmelzen.

Ulrike Herdin, Regieassistentin, Produzentin, Produktionsberaterin, verstarb unmittelbar nach Fertigstellung des Filmes. Für alle, die sie kannten, ist das ein großer Verlust. Ulrike Herdin wurde an einem 9. November geboren, ein symbolhaftes Datum? Anfang der siebziger Jahre aus der DDR in den Westen gekommen, war das Thema DDR für sie ein zentraler Punkt in ihrem Leben.

Konstanze Binder, Regisseurin, Bildmischerin, Kamerafrau, studierte Psychologie an der Universität Zürich, arbeitete als Bildmischerin und Dokumentaristin beim Schweizer Fernsehen und studierte an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb).

Lilly Grote, Regisseurin, Kamerafrau und Produzentin, studierte Malerei und Kunsterziehung an der Kunsthochschule in Kassel. Sie arbeitete in einem fotografischen Atelier, bevor sie ein Studium an der dffb anschloss. Sie ist weiterhin durch Lehr­aufträge mit der dffb verbunden.

Julia Kunert, Kamerafrau, Regisseurin, Autorin, Fotografin, Produzentin, studierte an der Hochschule für Film und Fernsehen in Babelsberg, arbeitete als Kamerafrau im Fernsehen der DDR. Nach der Wende hatte sie eine zweijährige Lehrtätigkeit an der HFF Potsdam-Babelsberg und ist Gastdozentin an der dffb.


Julia Kunert, Ulrike Herdin, Lilly Grote, Konstanze Binder






Quelle der filmographischen Angaben: Länge, Filmformat: 41. Internationale Filmfestspiele Berlin, Neue Deutsche Filme, Dokumentation (dort werden abweichend vom Abspann bzw. genauer als dort genannt: Regie, Buch, Schnitt: Konstanze Binder, Lilly Grote, Ulrike Herdin, Julia Kunert. Kamera: Julia Kunert.) Bildformat, Kinostart, Erstverleih: https://www.filmportal.de/film/berlin-bahnhof-friedrichstrasse-1990_7e7fb6ae9579452c929f635a4fee028f (besucht am 22.8.2019). Uraufführung: Programm des 21. Internationalen Forums des Jungen Films, Berlin 1991. Erstausstrahlung: Süddeutsche Zeitung vom 19.2.1991. Alle anderen Angaben: Originalabspann.

 

Bilder: Anne Herdin, Lilly Grote.