Berlin-Film-Katalog

(in Vorbereitung)

Rarität des Monats Oktober 2014

Die Auswahl an Berlin-Filmen, die in den Kinos wie im Fernsehen läuft, wird immer kleiner. Das Filmbild der Stadt wird dementsprechend von immer weniger Werken geprägt. Und immer mehr Berlin-Filme, darunter auch bedeutende, geraten in Vergessenheit.

Deshalb und um zu zeigen, daß Berlin-Film-Katalog nicht nur auf Geld wartet, gibt es den Jour fixe des selten gezeigten Berlin-Films: Seit Juni 2012 wird jeweils am zweiten Montag im Monat im Brotfabrikkino eine Berlin-Film-Rarität präsentiert.

Vom 9.-15. Oktober 2014 um 18 Uhr (am 13. Oktober begrüßten wir dazu Michael Klier und Laura Tonke) lief

Ostkreuz

D 1991 – 83 Min. – 16 mm (1:1,37) – Farbe
Regie: Michael Klier. Buch: Michael Klier, Karin Ǻström. Kamera: Sophie Maintigneux, Hervé Dieu. Musik: Fred Frith. Schnitt: Bettina Böhler, Birgit Berndt. Ausstattung: Irene Scholz, Andrea Greifsmühlen. Kostüm/Maske: Detlev Pleschke, Nana Rebhahn. Regieassistenz: Christian Hannoschöck. Ton: Klaus Klingler, Peter Henrici. Aufnahmeleitung: Frank Schneider.
Darsteller: Laura Tonke, Miroslaw Baka, Suzanne von Borsody, Stefan Cammann, Gustaw Barwicki, Henry Marcinkowski, Martin Trettau, Sophie Rois, Lutz Weidlich, Michael Krause.
Produktion: Michael Klier Film im Auftrag des Zweiten Deutschen Fernsehens. Produktionsleitung: Elke Peters. Redaktion: Brigitte Kramer.
Erstverleih: Sputnik.

Erstaufführung: 27. Juni 1991, München (Filmfest).

Vorführung einer 35 mm-Kinofilm-Kopie.

Mit „Überall ist es besser, wo wir nicht sind“, der Geschichte zweier junger Polen, die in West-Berlin ihr Glück suchen, hatte Michael Klier („Heidi M.“, „Farland“) 1989 auf sich aufmerksam gemacht. Zwei Jahre später, nachdem die Mauer gefallen war, drehte er mit teils dem gleichen Team „Ostkreuz“. Im Mittelpunkt dieses Dramas steht eine Halbwüchsige (Laura Tonke in ihrer ersten Filmrolle), die nach der Flucht aus dem Osten mit ihrer Mutter in einer trostlosen Containersiedlung lebt. Ebenso frühreif wie unsicher, versucht sie sich in einem sehr wüst und unwirtlich wirkenden Berlin der Zeit kurz nach der Wiedervereinigung zu behaupten und eine Perspektive für ihr Leben zu finden.

Unser Flyer zu diesem Film. Sie dürfen ihn gern herunterladen, ausdrucken, verteilen oder einrahmen und an die Wand hängen.

Weitere Informationen hier.

Unwirtlich und desolat

Mit seinem vorangegangenen, 1989 uraufgeführten Film „Überall ist es besser, wo wir nicht sind“ hatte Michael Klier viel Aufmerksamkeit und Zuspruch erlangt. Nach dieser Geschichte zweier junger Polen, die noch zu Mauerzeiten in West-Berlin ihr Glück versuchen, entstand „Ostkreuz“ dann im Winter 1990/1991, teils wieder mit demselben Team: Sophie Maintigneux an der Kamera, assistiert von Hervé Dieu, Bettina Böhler als Cutterin, Miroslaw Baka in der männlichen Hauptrolle, um nur einige der wichtigsten Beteiligten zu nennen. Eine Neuentdeckung war Laura Tonke, damals sechzehn Jahre alt, die für „Ostkreuz“ zum ersten Mal vor der Kamera stand und mit der Hauptrolle der Elfie ihre Karriere starten konnte.

Um kurz die Zeitumstände in Erinnerung zu rufen: Ende 1990 waren die staatliche Einheit Deutschlands und die Wiedervereinigung Berlins vollzogen – etwas, das anderthalb Jahre zuvor kaum jemand für möglich gehalten hatte. Und viele in Ost wie West übrigens, das wird heute gern vergessen, auch nicht für wünschenswert. Die Ereignisse in Deutschland, wie in anderen Teilen Europas, hatten sich überschlagen, sich aber keineswegs so entwickelt, wie manche es erhofft hatten. Auf den enthusiastischen Aufbruch kurz nach dem Sturz der SED-Diktatur war inzwischen der Katzenjammer gefolgt: Es zeichnete sich ab, daß die nächsten Jahre sehr viel schwieriger werden würden als zunächst gedacht, Helmut Kohl war als Bundeskanzler im Amt bestätigt und der Anfang 1989 abgewählte Eberhard Diepgen erneut Regierender Bürgermeister Berlins geworden, und weltpolitisch zogen schon wieder dunkle Wolken auf – im Spätsommer 1990 hatte der von Saddam Hussein beherrschte Irak den Nachbarstaat Kuwait besetzt, im Januar 1991 begann der von den USA angeführte, mit großen Befürchtungen verbundene Krieg zur Beendigung dieser Okkupation. Aber zugleich war dies, so muß man aus heutiger Sicht anmerken, auch noch eine Zeit, in der nicht gleich allgemeine Hysterie ausbrach, wenn jemand in einem Lokal rauchte oder Jugendliche mal ein Bier tranken.

In „Ostkreuz“ – wo die gleichnamige S-Bahn-Station nie auftaucht, der Titel ist mehr metaphorisch zu verstehen – wird Berlin als ein so unwirtlicher, desolater Ort gezeigt wie in kaum einem anderen Film seit der frühen Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. An ebendiese fühlte sich Michael Klier, der als Teenager selbst aus der DDR gekommen war und zusammen mit Karin Ǻström auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnete, damals erinnert, also wollte er auch das Berlin des Winters 1990/1991 in gewisser Hinsicht als Trümmerlandschaft zeigen (die natürlich wiederum auch symbolisch zu verstehen ist). Als Vorbilder im Kopf hatte er dabei die kurz nach 1945 entstandenen „Trümmerfilme“, etwa Roberto Rossellinis „Deutschland im Jahre Null“, auf den es in „Ostkreuz“ eine deutliche Anspielung gibt: Der von seinen Eltern verlassene Junge, den Elfie trifft, heißt Edmund – wie die halbwüchsige Hauptfigur in „Deutschland im Jahre Null“.

Wie Michael Klier im Gespräch nach der Aufführung am 13. Oktober 2014 berichtete, war der Darsteller des Edmund in „Ostkreuz“, Stefan Cammann, ein echter „Trebegänger“, seinem fast noch kindlichen Aussehen zum Trotz bereits volljährig und zum Zeitpunkt der Erstaufführung des Films schon wieder verschollen gewesen. Auch spätere Versuche, ihn ausfindig zu machen – andere Filmproduktionen hatten sich an ihm interessiert gezeigt – scheiterten. Ursprünglich habe Edmund die Hauptfigur sein sollen und Elfie die jugendliche Stadtstreicherin. Wegen der nicht ganz problemlosen Zusammenarbeit mit Cammann und des Talents, das Laura Tonke rasch gezeigt hatte, seien die Rollen getauscht worden.

Seine Drehorte fand Klier nicht nur am Stadtrand, wo es ja häufig etwas trostlos ausschaut, sondern auch mitten in der Stadt: Wo West- und Ost-Berlin zusammentrafen und achtundzwanzig Jahre lang die Mauer verlaufen war, war faktisch eben auch oft Stadtrand gewesen, waren vom Krieg verursachte Brachen nicht wieder bebaut oder für die Errichtung der Mauer neue geschaffen worden. Das sieht man in „Ostkreuz“ zum Beispiel in einer Szene, die südlich des Spittelmarkts entstand, auf der Höhe Kommandanten-/Seydelstraße, mit den Hochhäusern der Leipziger Straße im Hintergrund. Oder, gegen Ende des Films, an der Leipziger Straße, wo gegenüber des preußischen Herrenhauses, in dem heute der Bundesrat sitzt, zu DDR-Zeiten angefangene und dann nicht fertiggestellte Plattenbauten standen. Das Filmtheater Vorwärts, dies noch als kleine heimatkundliche Anmerkung, befand sich in der heutigen Treskowallee, südlich neben dem Bahnhof Karlshorst – es war bereits 1987 geschlossen worden, 2001 wurde es mitsamt der es umgebenden Häuserzeile abgerissen. Und last but not least ist hier erfreulicherweise das inzwischen ebenfalls verschwundene Aussehen des S-Bahnhofs Alexanderplatz in seiner 1964 fertiggestellten Form festgehalten worden.

„Ostkreuz“ konnte trotz des Erfolgs von „Überall ist es besser, wo wir nicht sind“ nur als Fernsehproduktion realisiert werden (wobei allerdings auch eine Rolle spielte, daß Klier sich nicht mit den zeitraubenden Mechanismen der Filmförderungsbürokratie aufhalten, sondern möglichst schnell mit dem Dreh beginnen wollte). Dementsprechend wurde der Film einer breiteren Öffentlichkeit zum ersten Mal im ZDF gezeigt, am 23. Juli 1991, rund vier Wochen nach seiner Uraufführung auf dem Münchner Filmfest. Schon damals etwas ungewöhnlich, heute wäre es fast sensationell, fand „Ostkreuz“ dennoch einen Verleih und kam Anfang 1992 in die Kinos.

Durch diese Konstellation erhielt der Film in der Presse eine Vielzahl von Besprechungen, wozu auch beitrug, daß sich damals die meisten Printmedien noch halbwegs ernsthaft mit dem Fernsehprogramm auseinandersetzten und es nicht nur Vorabberichte gab, sondern man auch Kritiken zwei Tage nach der Ausstrahlung brachte. In manchen Blättern wurde „Ostkreuz“ deshalb im Sommer 1991 innerhalb weniger Tage zweimal rezensiert – und im Januar 1992, zum Kinostart, ein drittes Mal. Die Einschätzungen deckten ganz die mögliche Bandbreite ab, vom Verriß bis zum Jubel, mit allen Schattierungen dazwischen. Zuweilen lobten die einen Kritiker gerade das, was die anderen bemängelten.

Jedenfalls erhielt auch dieses Werk Michael Kliers zahlreiche Preise, unter anderem zeichnete man seinen Schöpfer mit dem Bayerischen Filmpreis und mit dem Adolf-Grimme-Preis aus. Die Jury des letzteren schrieb zur Begründung: „Michael Kliers neuer Film zeichnet sich durch die Kombination von Kargheit und atmosphärischer Dichte aus. Eine besondere Herausforderung für den Regisseur bestand darin, das neue Berlin, nun ohne Grenzen, aber auch mit mehr Elend, durch die Augen eines 15-jährigen Mädchens zu zeigen. Die Jugendlichen werden knapp und ohne Sentiment gezeichnet. Der für viele harte und kalte Anfang eines neuen Geschichtsabschnitts wird mit einfachen Konstellationen und dichten Bildern erzählt.“

J.G.

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Quellen der filmographischen Angaben: http://www.filmportal.de/film/ostkreuz_8ac788c2c15243f9998809e437f96f92 (besucht am 15.9.2014; Angaben zu Filmlänge, Filmformat, Produktion, Erstaufführung und Erstverleih), Originalvor- und -abspann (alle weiteren Angaben).

Bilder: Michael Klier Film.