Rarität des Monats November 2018
Die Auswahl an Berlin-Filmen, die in den Kinos wie im Fernsehen läuft, wird immer kleiner. Das Filmbild der Stadt wird dementsprechend von immer weniger Werken geprägt. Und immer mehr Berlin-Filme, darunter auch bedeutende, geraten in Vergessenheit.
Deshalb und um zu zeigen, daß Berlin-Film-Katalog nicht nur auf Geld wartet, gibt es den Jour fixe des selten gezeigten Berlin-Films: Seit Juni 2012 wird jeweils am zweiten Montag im Monat im Brotfabrikkino eine Berlin-Film-Rarität präsentiert.
Vom 12.-14. November 2018 um 18 Uhr lief
Gejagt bis zum Morgen
DDR 1957 – 80 Min. (2212 m) – 35 mm (1:1,33) – Schwarzweiß
Regie, Bild: Joachim Hasler. Drehbuch: Artur A. Kuhnert nach Erinnerungen und unter Mitarbeit von Ludwig Turek. Kameraführung: Otto Hanisch. Bauten: Gerhard Helwig. Bauausführung: Hermann Asmus. Musik: Walter Sieber. Kostüme: Vera Mügge. Maske: Hanns Wosnik, Charlotte Stritzke. Schnitt: Hildegard Tegener. Ton: Gerhard Hoffmann. Aufnahmeleitung: Siegfried Nürnberger. Regieassistenz: Hans-Joachim Kasprzik. Kameraassistenz: Richard Günther.
Darsteller: Manja Behrens (Martha Kurda), Wolfgang Obst (Ludwig), Siegfried Ewert (Ulli), Petra Denardy (Lilli), Raimund Schelcher (Karl Baumann), Siegfried Schürenberg (Polizeiinspektor), Annemarie Hase (Mutter Bühnemann), Friedrich Gnass (Vater Baumann), Günther Ballier (Arzt), Wolf von Beneckendorff (alter Mann mit Flasche), Adolf Peter Hoffmann (Kowalski), Frank Michelis (Bauer), Paul Pfingst (Kranführer), Gustav Püttjer (Schiffer), Werner Senftleben (Polizist im Hafen), Traute Sense (elegante Dame), Otto Eduard Stübler (Direktor), Karl-Heinz Weiss (Drucker), Siegfried Weiss (eleganter Herr), Johannes Wieke (Stationsvorsteher), Gerry Wolff (junger Mann), Marianne Wünscher (Bäuerin), Barbara Uhlen (Blumenmädchen).
Produktion: DEFA. Produktionsleitung: Werner Dau.
Erstverleih: Progress.
Uraufführung: 6. Dezember 1957, Berlin, Colosseum.
Erstausstrahlung: 7. Februar 1958, Deutscher Fernsehfunk.
Vor einhundert Jahren wurde das deutsche Kaiserreich, dessen Führung wesentlich dazu beigetragen hatte, Deutschland und Europa in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs zu stürzen, durch die Novemberrevolution hinweggefegt. Auf einen autoritären Staat mit schroffen Klassenunterschieden, in dem auch vor dem Gesetz nicht alle Menschen gleich waren, folgte die erste deutsche Demokratie, die auch das Frauenwahlrecht brachte.
Hundert Jahre später freilich ist aus dem deutschen Kaiserreich längst die „gute, alte Zeit“ geworden, in der die Welt noch in Ordnung war, es gesittet zuging und alles sehr geschmackvoll aussah. Film- und Fernsehproduktionen über diese Ära ergehen sich in Geschichten aus dem Adel und dem gehobenen Bürgertum, wo in edlen Kulissen und Kostümen Herzensprobleme, Gutsbesitzer(töchter)ssorgen und Fabrikantennöte behandelt werden. Dabei wimmelt es auch vor starken Frauen, die sich kühn in einer Männergesellschaft behaupten, so daß man sich fragen muß, weshalb eine weitere weibliche Emanzipation jemals notwendig war. Noch unverständlicher als die Frauenbewegung wirkt angesichts all der Wohlfühlproduktionen, die filmische Groschenromane für die verunsicherte Mittelschicht bringen, daß es jemals eine Arbeiterbewegung gab.
Mit der Aufführung von „Gejagt bis zum Morgen“ möchten wir daran erinnern, was man im deutschen Film und Fernsehen kaum mehr zu sehen bekommt: In welch drückender Armut weite Teile der Bevölkerung im deutschen Kaiserreich lebten, wie ausgebeutet und rechtlos sie waren, welch unerträglicher Obrigkeitsstaat dieses System war. Oder: Weshalb so vielen Menschen einstmals der Sozialismus als paradiesisches Ziel erschien und die Revolution kommen mußte.
Die DEFA-Produktion von 1957 folgt dem 1929 erschienenen Buch „Ein Prolet erzählt“ von Ludwig Turek (1898-1975), der am Drehbuch mitwirkte und hier eine Episode aus seiner Kindheit verarbeitete: Nach dem Unfalltod seines Vaters, eines Rangierers, muß die Mutter ihre beiden Söhne allein durchbringen. Als der Kleinere erkrankt, gibt es für ihn angesichts der Armut keine Rettung, bei der Beerdigung glaubt der Größere, den Tod eines Mannes verursacht zu haben und wird deshalb auch von der Polizei durch Berlin gejagt.
Mit „Gejagt bis zum Morgen“ begann Joachim Hasler („Chronik eines Mordes“, „Heißer Sommer“, „Meine Stunde Null“, „Nicht schummeln, Liebling!“) seine Laufbahn als Regisseur. Zuvor hatte er schon als Kameramann reüssiert. Auch hier zeichnete er für die Photographie verantwortlich. Entsprechend ausgefeilt ist die, gelegentlich an den Film noir erinnernde, Bildgestaltung.
Die West-Berliner Tageszeitung „Der Kurier“ (Ende 1966 eingestellt, nicht identisch mit dem heutigen „Berliner Kurier“), notierte nach der Premiere anerkennend: „Wenn es gilt, Zustände der wilhelminischen Aera filmisch festzuhalten, hat die ostzonale DEFA meist eine glückliche Hand. So auch in ihrem neuesten Streifen 'Gejagt bis zum Morgen', der nach dem Buch von Ludwig Turek 'Ein Prolet erzählt' gedreht wurde. Trotz dieser ideologischen Ausrichtung gelang jedoch Regisseur Joachim Hasler, der gleichzeitig auch für das optische Geschehen verantwortlich zeichnet, ein sehr atmosphärisches Werk. Wesentlichen Anteil daran haben aber auch die profilierten darstellerischen Leistungen von Manja Behrens, Raimund Schelcher, Siegfried Schürenberg, Annemarie Hase und Friedrich Gnass.“ (H.E., Der Kurier vom 10. Dezember 1957)
Unser Flyer zu dieser Rarität. Sie dürfen ihn gern herunterladen, ausdrucken, verteilen oder einrahmen und an die Wand hängen.
Mehr zu dem Film hier, hier und hier.
Quellen der filmographischen Angaben: Filmlänge, Filmformat, Rollenzuordnungen: http://www.defa-stiftung.de/DesktopDefault.aspx?TabID=412&FilmID=Q6UJ9A002LG3&qpn=0 (besucht am 17.10.2018); https://www.filmportal.de/film/gejagt-bis-zum-morgen_64d4cb28ed66405796b5480b17c51d40 (besucht am 17.10.2018) nennt als Länge 81 Minuten und 2218 Meter, vom Stab außerdem: Standphotos: Herbert Kroiss, Requisite: Erich Düring, Maske: Hans Wosnick, Charlotte Stritzke, Aufnahmeleitung: Otto Schröder, Eberhard Rühmling, als Darsteller außerdem: Wolfgang Obst (Ludwig), Siegfried Ewert (Ulli), Nico Turoff (Kapitän), Petra Denardy (Lilli), Horst Friedrich (dicker Budiker), Ludwig Sachs (Gerichtsarzt), Hermann Stetza (Kurda, Stelzenläufer), Barbara Uhlen (Blumenmädchen), Friedrich Teitge (alter Mann), Hannelore Freudenberger (zögernde Frau im Parkett), Lieselott Baumgarten (Reisende), Herbert Manz (1. Gendarm), Alfred Hedwig (2. Gendarm), Günter Dressler (3. Gendarm), Fritz Sahn (1. Schiffer), Ewald Bauer (2. Schiffer), Albert Zahn, Wolfgang Pietsch, Kurt Weigel-Miltoor, Wolf Repp-King-Repp, Gustav Stähnisch, Anna-Maria Besendahl, Gerhard Einert, Willi Endtresser, Alexander Remo, Ursula Spieker, Siegfried Seibt, Waldemar Jacobi, Hans Cohn, Paul Scholz, Andreas Ankronius, Charlotte Stähnisch, Ulrich Gorgler, Walter Mickley, Egon Vogel, Gabriele Granzow, Egon Knitter, Jo-Hans Teska, Walter Issberner, Günter Zschiesch, Rita Weber, Inge Schmitz-Teska, Peter Dommisch, Wolf Gusthävel, Irmgard Gaat, Gerhard Soor, Inge Petter, Augustin Kovacz, Bruno Christoph, Heinz Wiesener, Bernhard Ullrich, Willi Neuenhahn, Peinette Voigt, Traudel Kark, Walter E. Fuß, Wolf Lucas. Uraufführung: Berliner Zeitung vom 6.12.1957. Erstausstrahlung: https://de.wikipedia.org/wiki/Gejagt_bis_zum_Morgen (besucht am 17.10.2018). Alle anderen Angaben: Originalvorspann (dort statt Wolfgang Obst, Siegfried Ewert, Petra Denardy und Barbara Uhlen aufgeführt: „die Kinder Ludwig, Ulli, Lilli und ein Blumenmädchen“).
Bilder: DEFA-Stiftung/Herbert Kroiss.