Berlin-Film-Katalog

(in Vorbereitung)

Rarität des Monats Mai 2014

Die Auswahl an Berlin-Filmen, die in den Kinos wie im Fernsehen läuft, wird immer kleiner. Das Filmbild der Stadt wird dementsprechend von immer weniger Werken geprägt. Und immer mehr Berlin-Filme, darunter auch bedeutende, geraten in Vergessenheit.

Deshalb und um zu zeigen, daß Berlin-Film-Katalog nicht nur auf Geld wartet, gibt es den Jour fixe des selten gezeigten Berlin-Films: Seit Juni 2012 wird jeweils am zweiten Montag im Monat im Brotfabrikkino eine Berlin-Film-Rarität präsentiert.

Am 12. Mai 2014 um 19 Uhr (hierzu begrüßten wir als Gast Peter Voigt) und vom 15.-18. Mai 2014 um 19.30 Uhr lief



Dämmerung – Ostberliner Bohème der fünfziger Jahre

D 1993 – 98 Min. (1070 m) – 16 mm (1:1,37) – Farbe
Regie, Buch, Schnitt: Peter Voigt. Kamera: Christian Lehmann. Kameraassistenz: Felix Schumann. Ton: Jürgen Abel. Mischton: Holger Rogge. Licht: Rüdiger Fabian. Projektion: Manfred Nieber. Fotografien: Ulrich Wüst. Titel: Moser + Rosié. Produktionsleitung: Herbert Kruschke. Herstellungsleitung: Rainer Ackermann. Musikberatung: Nina Sandow. Dramaturgische Beratung: Christlieb Hirte. Redaktion: Beate Schönfeld, Hans von Brescius. Regieassistenz: Andreas Goldstein. Musik: Chopin, Ravel, Messiaen, Sandow, Eisler, Knaup/Brecht, Mozart. Zitate: Kierkegaard, Carroll, Chamisso, Kafka. Kunst: Bacon, Ebeling, Tumarkin, Cremer.
Produktion: Brandenburger Filmbetrieb und Dokfilm Babelsberg GmbH.

Peter Voigts 1993 entstandene dokumentarische Collage erinnert an die kleine Szene von Künstlern und Lebenskünstlern, die sich in den Kindertagen der DDR zwischen Bahnhof Friedrichstraße und Oranienburger Tor gebildet hatte. 1933 geboren und Meisterschüler von Bertolt Brecht, war der spätere DEFA-Regisseur Voigt selbst Teil dieser Szene. Mit den Erinnerungen von Zeitzeugen, darunter Prominenten wie die Schau­spie­ler Stefan Lisew­ski und Dieter Knaup, der Bildhauer Werner Stötzer, die Journalis­tin Jutta Voigt, die Brecht-Tochter Barbara und ihr Mann und Schauspieler­­­­­­­k­ollege Ekkehard Schall und auch der berühmt-berüchtigte Medieneinpeitscher Karl-Eduard von Schnitzler (von dem als einzigem gezeigt wird, wie er aufsteht und aus dem Bild geht), ergeht er sich in „Dämmerung“ jedoch nicht in Nostalgieseligkeit. Vielmehr ist der Film eine sehr geschickte, be­tont bruchstückhafte Mon­tage von zeitgenössischen Bild-, Ton- und Textdokumenten mit den Zeitzeugen-Berichten, bei denen Voigt auch demonstriert, daß man ihnen nicht blind trau­en darf, weil Erinnerung immer auf Konstruktion beruht: „Dämmerung“ zeigt Erinnerung als Bewußt­­seinsstrom, behandelt nicht nur ein weitgehend vergessenes Stück Berli­ner Stadt- und Kultur­geschichte, sondern ist auch eine Reflektion über das Er­innern und das Vergessen. Ein künstlerisch herausragender Film, der jedoch leider nur sehr selten zu sehen und bislang auch nicht auf DVD verfügbar ist.

Unser Flyer zu diesem Film. Sie dürfen ihn gern herunterladen, ausdrucken, verteilen oder einrahmen und an die Wand hängen.



Erinnerung als Bewußtseinsstrom und die Frage, was bleibt

Bohème im Sozialismus? Kann es das überhaupt geben? Zumindest gab es eine kleine Szene von Künstlern und Lebenskünstlern, die sich in den fünfziger Jahren in einigen Lokalen – Pressecafé, Hajo-Bar, Möwe, Esterhazy-Keller, Koralle – zwischen Invalidenstraße und Bahnhof Friedrichstraße traf, mit dem Berliner Ensemble als Epizentrum. Man war jung, hielt sich für Avantgarde, trank viel, schwadronierte noch mehr, die wenigen Frauen waren vor allem dazu gedacht, sich von den Herren der künstlerischen Schöpfung beeindrucken zu lassen.

Peter Voigt, Jahrgang 1933, Meisterschüler beim 1956 verstorbenen Bertolt Brecht, zählte selbst zu diesem Kreis. 1993 drehte er darüber diesen Film, den ich zum ersten Mal vor rund zwanzig Jahren im MDR gesehen habe, vermutlich, als er seine Erstausstrahlung erlebte. Von daher hatte ich den Film als interessant und auch als formal recht gelungen im Gedächtnis.

Nun ist man manchmal von einem Film, der einem gut gefallen hat, enttäuscht, wenn man ihn nach längerer Zeit wiedersieht. Bei „Dämmerung“ war es umgekehrt: Als ich ihn wiedersah, um zu prüfen, ob er etwas für unsere kleine Reihe mit Berlin-Film-Raritäten sein könnte, fand ihn noch besser, als ich ihn in Erinnerung hatte.

Ich denke, das liegt nicht nur an der hohen Qualität der Gestaltung durch Peter Voigt, sondern auch an dessen Haltung. Wie würde eine Dokumentation wie „Dämmerung“ gemeinhin aussehen, erst recht heutzutage, angesichts der Veränderungen, die in diesem Genre in den letzten zwanzig Jahren um sich gegriffen haben?

Käme es ganz dicke – der Knoppisierung des Dokumentarfilmschaffens sei dank – würde man historisches Geschehen von Laiendarstellern klischeehaft nachäffen lassen, wenn es um Vorgänge aus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts geht gern in braunstichigen oder gar schwarzweißen Bildern. In jedem Falle aber würde man die Auskunft gebenden Zeitzeugen vor die üblichen Bücherregale oder die durch ein Schlaglicht erhellte schwarze Wand setzen. Und man würde ihre Aussagen – so es sich nicht um offenkundige Lügen handeln würde oder sie politisch extrem eingefärbt wären – als absolute, unumstößliche Wahrheit behandeln, die man nicht nur nicht zu hinterfragen braucht, sondern eigentlich auch nicht hinterfragen darf, als Filmemacher so wenig wie als Zuschauer: Der Zeitzeuge hat immer recht, insbesondere wenn er hübsche Anekdoten erzählt und von den Gefühlen spricht, die er vor zwanzig, vierzig oder gar sechzig Jahren in einem bestimmten Moment – angeblich – hatte. Denn das wirkt so schön menschlich, spricht den „Bauch“ an statt den „Kopf“ und paßt damit hervorragend zu der durchgreifenden Boulevardisierung der Medien, die in den letzten Jahren stattgefunden hat.

Wer sich hingegen noch die Mühe machen möchte zu denken, weiß: Erinnerung beruht stets auf Konstruktion, ist selektiv, verzerrt, auf verschiedenste Weise verfälscht, sei es bewußt oder auch unbewußt. Das Gedächtnis vermengt manches, auch Selbsterlebtes mit nur Gehörtem, Gelesenem, womöglich im Kino oder im Fernsehen Gesehenem, tilgt – vermutlich schon aus Selbstschutz – Unschönes, füllt Lücken mit Zusammengereimtem. Mir persönlich ist das so richtig bewußt geworden, als ich einmal in alten Tagebüchern gestöbert habe und dort Dinge deutlich anders geschildert fand, als ich sie in Erinnerung gehabt hatte. Ich gehe davon aus, daß nicht meine Aufzeichnungen, sondern meine Erinnerungen trügen. Wenn ich mich aber schon nach rund fünfzehn Jahren so falsch erinnert habe – wie soll das dann erst einmal sein, wenn man an Dinge denkt, die dreißig, vierzig, fünfzig Jahre oder noch länger zurückliegen?

Wenn Peter Voigt in „Dämmerung“ zeigt, wie Werner Stötzer sich – und zwar vehement! – falsch an John Heartfields Hund erinnert, dann ist das keine Besserwisserei, sondern macht eben deutlich, wie wenig dem Gedächtnis zu trauen ist. Eine meiner liebsten Sequenzen in dem Film ist denn auch jene, in der wichtige Figuren der fünfziger Jahre per Untertitel falsch benannt werden – bis auf eine Ausnahme. So kann sich eben alles im Laufe der Zeit verwirren.

Wie in anderen seiner Filme, die ebenfalls, womöglich nicht zufällig, viel zu selten zu sehen sind – ich nenne als Beispiele nur „Stein schleift Schere“, „Knabenjahre“ oder „Metanoia“ –, zeigt Peter Voigt in „Dämmerung“ Erinnerung als Bewußtseinsstrom: Seine geschickte Montage von Zeitzeugenberichten, Texten, Tönen, Photos, Gemälden, Wochenschauaufnahmen, diese Vermengung und Überlagerung von Bruchstücken, spiegelt anschaulich den Prozeß des Erinnerns wider. Bedeutendes und Bezeichnendes wird mit Belanglosem vermischt, manches wiederholt, eine klare Chronologie gibt es nicht, die Anordnung scheint intuitiv, vieles bleibt vage.

Gerade dadurch jedoch wird deutlich, daß dies nicht nur eine künstlerisch herausragende Dokumentation über ein weitgehend vergessenes Stück Berliner Stadt- und Kulturgeschichte ist, sondern auch eine geistreiche, dabei ganz unaufdringliche und sehr anregende Reflexion über das Erinnern und das Vergessen, über individuelles wie kollektives Gedächtnis. Und über die Frage, was bleibt – von einer Zeit, einer Kultur, einem Leben.

Zusammengetragen werden, wie es einmal in „Dämmerung“ heißt, „die Scherben unserer Erinnerungen“ – ein wenig wehmütig, aber nicht sentimental, schon gar nicht nostalgieselig. Die großartige, symbolträchtige Bühne, an dem dies anno 1993 hauptsächlich geschah, ist das damals geschlossene, angestaubte, leergeräumte Nobelrestaurant Ganymed am Schiffbauerdamm, gleich neben dem Berliner Ensemble, das eine Art Epizentrum der hier erinnerten Ostberliner Bohème der fünfziger Jahre darstellte.

Hegel, heißt es in „Dämmerung“, habe sinngemäß gesagt: Erst wenn die Dämmerung über die Dinge des Lebens hinfällt, beginnt (...) das philosophische Begreifen dessen, was historisch geschehen ist. Darauf mag sich der Titel des Films beziehen; ich interpretiere ihn noch etwas anders: Der Film kreist einerseits um eine Morgendämmerung, den Aufbruch in eine – vermeintlich – „neue“ Zeit, kreist zumindest um Jugendjahre – Peter Voigt war ja damals selbst jung und Teil der hier behandelten kleinen Szene. Von einer Morgendämmerung mag man auch sprechen, wenn man an all die Hoffnungen denkt, welche mit der jungen DDR verbunden waren – und die doch sofort getrübt wurden durch jene doktrinäre Form des Sozialismus, samt all ihrer, wie es einmal heißt, „Ungerechtigkeiten, Härten, Verfolgungen“, die meiner Meinung nach zwangsläufig scheitern mußte. Womit wir bei der Abenddämmerung wären: Dieser Film entstand, wie gesagt, 1993, als alles längst vorbei war, nicht nur die Sozialismus-Hoffnungen und was alles damit verbunden war, sondern die ganze DDR. Der Film zeigt Menschen, die in fortgeschrittenem Alter an ihre Jugend zurückdenken, als sie Avantgarde waren oder sich zumindest dafür hielten. Er zeigt 1993 entstandene Bilder von der Gegend zwischen Bahnhof Friedrichstraße und Invalidenstraße, die inzwischen ihrerseits historisch sind – wie in der Friedrichstraße, so gibt es natürlich auch in der Albrechtstraße nicht mehr diese Baulücken, von der alten Albrechtstraße 11, in deren Vorderhausrest die Hajo-Bar war, ist inzwischen auch das Hinterhaus verschwunden, wo in der Invalidenstraße einmal die „Koralle“ war, steht jetzt eines dieser Hotels. Der Film zeigt, wie wenig an den Schauplätzen des erinnerten Geschehen schon 1993 jene noch finden, sehen konnten, die in den Fünfzigern nicht dabei gewesen waren, noch nicht gelebt haben.

Was bleibt? Nach dreißig Jahren ein paar Erinnerungsfetzen, oft ungenau oder sogar falsch, immer unschärfer werdend, und selbst diese nur auf eine Lebenszeit: Viele der in „Dämmerung“ sich Erinnernden weilen inzwischen nicht mehr unter uns, und so sind weitere zwanzig Jahre später auch ihre Erinnerungen ausgelöscht, sofern sie nicht festgehalten wurden, etwa in einem Film wie diesem.

*

Im Publikumsgespräch nach der Aufführung am 12. Mai 2014 berichtet Peter Voigt, wie im Freundeskreis aus den Fifties die Idee entstanden sei, man sollte doch viele der Anekdoten von damals, aber auch die Stimmung jener Jahre vor dem Mauerbau einmal auf Film festhalten.

Der Einfall, auf einem Friedhof zu drehen, wurde aus tontechnischen Gründen rasch verworfen. Das seinerzeit geschlossene Ganymed bot dann eine viel bessere, auch aussagekräftigere Bühne.

Historisches Filmmaterial war zuvor von einer Leinwand abgefilmt worden (man hört es an dem „Lautsprecherton“) und wurde nun an eine Wand des Weinrestaurants projiziert.

Rolf Ludwig konnte vor der Kamera keine Erinnerungen mehr beisteuern, sondern nur noch den berühmten Text Wolfgang Borcherts lesen. Vor einem weiteren Drehtermin starb der Schauspieler.

Der fertige Film sei 1992 auf viel Widerwillen, sogar Empörung gestoßen, insbesondere bei Westlern. Dementsprechend fand er auch keine große Verbreitung. Peter Voigt sei Verharmlosung der politischen Verhältnisse in der jungen DDR vorgeworfen worden. Als besonders übel habe man empfunden, daß Karl-Eduard von Schnitzler zu Wort gekommen war.

Solche Kritiker übersahen offenkundig, daß erstens in „Dämmerung“ (der zunächst viel plumper „Götterdämmerung“ heißen sollte) von politischer Verfolgung sehr wohl die Rede ist. Daß zweitens Schnitzler zwar nicht unbedingt als ein Fremdkörper, mit Sicherheit aber als ein Außenseiter in den Film eingebaut wurde: Er kündigt den Beginn seines Statements selbst an und er ist der einzige Zeitzeuge, von dem gezeigt wird, wie er aus dem Bild geht, den Film buchstäblich verläßt. Und drittens: Dies sollte keine wissenschaftliche, ausgewogene Abhandlung über die Ost-Berliner Kulturszene in der Zeit zwischen der Gründung der DDR und dem Mauerbau sein, sondern eine Sammlung von Erinnerungen und Anekdoten, eine Reflektion über das Vergehen von Zeit und über den Prozeß des Erinnerns und des (auch und gerade kollektiven) Vergessens – wobei Voigt selbst thematisiert, wie das Gedächtnis trügen und die eigene Vergangenheit, erst recht die eigene Jugend, verklären kann.

Vor zwanzig Jahren als nostalgieselige Verharmlosung verdammt, wird „Dämmerung“ mittlerweile – wo sich die Erinnerung an die DDR mit zunehmendem zeitlichem Abstand verfälscht, von manchen womöglich genau so konsumiert. Beides zeigt, daß man diesen Film mißverstanden, ihn womöglich nicht einmal aufmerksam verfolgt hat.

J.G.



Quellen der filmographischen Angaben: http://www.filmportal.de/film/daemmerung-ostberliner-boheme-der-50er-jahre_d4ef51ef045c4a08a73b9ba4a5ed6161 (besucht am 29.4.2014; Filmlänge und Filmformat), Originalvor- und -abspann (alle weiteren Angaben).

Bilder: Brandenburger Filmbetrieb.