Rarität des Monats März 2013
Die Auswahl an Berlin-Filmen, die in den Kinos wie im Fernsehen läuft, wird immer kleiner. Das Filmbild der Stadt wird dementsprechend von immer weniger Werken geprägt. Und immer mehr Berlin-Filme, darunter auch bedeutende, geraten in Vergessenheit.
Deshalb und um zu zeigen, daß Berlin-Film-Katalog nicht nur auf Geld wartet, gibt es den Jour fixe des selten gezeigten Berlin-Films: Seit Juni 2012 wird jeweils am zweiten Montag im Monat im Brotfabrikkino eine Berlin-Film-Rarität präsentiert.
Vom 7.-8. und 10.-13. März 2013 lief um 18 Uhr
Eine Handvoll Noten
DDR 1961 – 35 mm – Farbe (Agfacolor Wolfen) – 80 Minuten
Regie: Otto Schneidereit, Dr. Helmut Spieß. Drehbuch: Otto Schneidereit. Kamera: Otto Hanisch. Bauten: Oskar Pietsch. Musik: Martin Hattwig. Kostüme: Dorit Gründel. Masken: Margarete Walther, Alfred Fleischert. Ton: Kurt Eppers. Musiktonmeister: Günter Lambert. Schnitt: Anneliese Hinze-Sokolow. Regieassistenz: Eleonore Dressel. Kameraassistenz: Rudolf Dollan. Aufnahmeleitung: Paul Schimanski, Otto Schröder.
Darsteller: Günther Simon, Ingeborg Dirgardt, Stefan Lisewski, Angela Brunner, Albert Garbe, Erika Dunkelmann, Rudolf Ulrich, Werner Lierck. Außerdem wirken mit: das Tanzorchester des Berliner Rundfunks unter der Leitung von Günter Gollasch, das Tanzorchester Fips Fleischer, die Martin-Möhle-Combo, das DEFA-Sinfonieorchester unter der Leitung von Karl-Ernst Sasse, Heinz Quermann, Fred Frohberg, das Vineta-Trio, die Colibris, die 4 Teddies, die 4 Pico-Bellos und andere.
Produktion: DEFA-Studio für Spielfilme. Produktionsleitung: Werner Dau.
Erstaufführung: 25. Dezember 1961, Berlin (Filmtheater am Friedrichshain).
Erstverleih: Progress.
Projektion eines digitalen Datenträgers.
Ein junger Bäcker möchte Musik machen. Weil sein Vater davon nichts hält, entflieht er dessen provinzieller Backstube und heuert in einer genossenschaftlichen Großbäckerei in Berlin an, wo er natürlich auch die Liebe findet. – Ein fast völlig vergessener Musikfilm der DEFA, der dezent Propaganda betreibt: Brot aus der Fabrik schmeckt genauso gut wie vom Bäcker. Im sozialistischen Betrieb können sich die Mitarbeiter auch künstlerisch entfalten. Nicht nur bei der Arbeit wird gesungen. Und ausgiebig berlinert. Von der Stadt ist allerdings so gut wie nichts zu sehen.
Unser Flyer zum Film.
Auch Fabrikbrot macht Wangen rot
In den sechziger Jahren steckte der bundesdeutsche Film in einer tiefen künstlerischen wie kommerziellen Krise. Daher entstanden dort damals kaum mehr bedeutende Musikfilme, die ja in der Regel nicht nur einiges an handwerklichem Geschick erfordern, sondern auch an finanziellem Aufwand. Ganz anders bei der DEFA – als DDR-Staatsbetrieb mit einem großen, eingeübten Produktionsapparat schuf sie in den Sixties einige der besten, bemerkenswertesten deutschen Filmmusicals: „Revue um Mitternacht“, „Geliebte weiße Maus“, „Hochzeitsnacht im Regen“ oder „Heißer Sommer“.
Fast völlig vergessen ist jedoch ein Musikfilm, der 1961 entstand, in vielerlei Hinsicht auf halbem Weg zwischen der eher biederen DEFA-Produktion „Meine Frau macht Musik“ (1958, Regie: Hans Heinrich) und dem opulenten, einfallsreichen und selbstironischen Musical „Revue um Mitternacht“ (1962, Regie: Gottfried Kolditz): „Eine Handvoll Noten“ dürfte in den vergangenen Jahrzehnten kaum einmal zu sehen gewesen sein. Die letzte Fernsehausstrahlung liegt lange zurück, der Film ist weder auf VHS noch auf DVD verfügbar.
Dabei ist er schon aus historischen Gründen in vielerlei Hinsicht interessant: „Mein Sohn macht Musik“, beginnt die Besprechung in der „Berliner Zeitung“ vom 23. Dezember 1961, und der so hergestellte Zusammenhang zu dem etwas älteren Werk von Hans Heinrich besteht nicht nur in der Zugehörigkeit zum gleichen Genre. In „Meine Frau macht Musik“ wie in „Eine Handvoll Noten“ spielte eine Hauptrolle Günther Simon, Darsteller des Titelhelden in „Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse“ und „Ernst Thälmann – Führer seiner Klasse“ und dank dieser filmischen Heiligenbildchen Kurt Maetzigs zuweilen fast gleichgesetzt mit dem von der SED zum großen Märtyrer verklärten KPD-Vorsitzenden. Jedenfalls versuchte Simon seinem Image als Arbeiterheld in den Folgejahren immer wieder zu entfliehen: So in „Meine Frau macht Musik“ als spießiger Ehemann, der mit der Berufstätigkeit seiner Angetrauten hadert, in „Eine Handvoll Noten“ als unbeholfener, leicht verklemmter Bäcker, der erst der Hilfe seines besten Freundes und Kollegen bedarf, um zu seinem Liebesglück zu gelangen.
Heute kaum mehr verständlich ist auch die Werbung, welche in diesem Musikfilm für in der Fabrik erzeugte Backwaren betrieben wird: Der kleinstädtische, alte, dem Fortschritt gegenüber zunächst skeptische Bäcker muß sich in der konsumgenossenschaftlichen Großbäckerei nicht nur von deren moderner Ausstattung beeindruckt zeigen, sondern auch eingestehen, daß das dort produzierte Brot genauso gut schmeckt wie das handwerklich hergestellte aus seiner kleinen, provinziellen Backstube. „Die drüben haben Jahrzehnte gebraucht, um zu begreifen, daß Schrippen vom Bäcker besser schmecken als aus der Fabrik“, war in den siebziger und achtziger Jahren eine im Westen gern verbreitete Weisheit. Fabrikbrot und -brötchen galten als Beispiel für minderwertige Massenproduktion, mit denen die Brüder und Schwestern im Osten abgespeist, wenn nicht gequält wurden. Und tatsächlich erfuhren die Produkte der relativ wenigen verbliebenen privaten Bäcker in der DDR eine besondere Wertschätzung. Mittlerweile wurde die gesamte Problematik vom Kapitalismus bekanntlich auf dessen ureigene Weise gelöst: über den Preis und durch einen Verdrängungswettbewerb, in dem die Kleinen kaum gegen die Großen bestehen können.
Dezente Werbung für den DDR-Sozialismus wird in „Eine Handvoll Noten“ auch hinsichtlich der Darstellung des Treibens in der genossenschaftlichen Großbäckerei gemacht: Dort wird nicht nur während der Arbeit gern gesungen; wie es sich für einen sozialistischen Betrieb gehört, fördert dieser auch die künstlerische Selbstverwirklichung seiner Werktätigen (der Bitterfelder Weg läßt grüßen). So kann der seinem Vater und dessen Unverständnis für musikalische Ambitionen entflohene junge Bäckergeselle (Stefan Lisewski, damals einer der wichtigsten jungen Stars der DEFA) rasch zum Solotrompeter des werkseigenen Tanzorchesters aufsteigen und das nahende Betriebsfest wie gewünscht auch mit Mambo-Klängen bereichern. Und am Ende wird er, der nebenher natürlich ein exzellenter Bäcker ist, gar von seinem Betrieb zum lang erträumten Musikstudium delegiert.
Nicht mehr nötig hat dies die Verkäuferin aus der Friedrichshagener Backwaren-Verkaufsstelle des Konsum: Sie trällert auf der Feier, als stünde sie auf einer Operettenbühne – Donnerwetter, denkt sich da der kapitalistische Beobachter, schon toll, was so eine vollentwickelte sozialistische Persönlichkeit alles kann! (Die Darstellerin Ingeborg Dirgardt – eine Neuentdeckung, die bei der DEFA kaum weitere Beschäftigung fand – kam tatsächlich von der Operette.)
Apropos Friedrichshagen: Obwohl ausdrücklich in Berlin angesiedelt, sieht man von der Stadt in „Eine Handvoll Noten“ so gut wie nichts. Auch spielen Berliner Besonderheiten keinerlei Rolle – der im Jahr des Mauerbaus entstandene Film ist damit auch eine der ersten DEFA-Produktionen, in denen die Teilung der Stadt einfach ignoriert wird. Nur für den Gegensatz zwischen Großstadt und Kleinstadt ist Berlin hier von Belang, wobei der Schauplatz vor allem durch den Dialekt vermittelt wird. Allerdings spricht man den gleichen auch in dem ungenannt bleibenden Provinznest, weshalb Agnes Kraus – Jahre vor ihrem späten Aufstieg zu einem der größten Fernsehstars der DDR – in ihrer kleinen, in dem Kaff angesiedelten Nebenrolle in gewohnter Weise sprechen kann.
Seinerzeit bereits prominent waren hingegen der Entertainer Heinz Quermann, der hier einen Musikalienhändler gibt, und der Sänger Fred Frohberg. Daneben wurden für den Film einige der damals bekanntesten Tanzorchester und Ensembles der DDR verpflichtet.
„Eine Handvoll Noten“ war eine Art Weihnachtsgeschenk der DEFA: Am Nachmittag des 25. Dezember 1961 erlebte der Streifen im Berliner Filmtheater am Friedrichshain seine Uraufführung. So die Zeitungen ihn überhaupt beachteten, wurde er verrissen: „Geriet der Inhalt der leichten DEFA-Filme von mal zu mal dürftiger, ist nun der Punkt erreicht, wo man bald vom ‚Film ohne Inhalt’ sprechen muß“, heißt es in der Kritik der „Jungen Welt“ vom 23./24. Dezember 1961, die schloß: „Warum sich soviel Dilettantismus auch noch in Farbe und Totalvision ausbreiten muß, bleibt Produktionsgeheimnis der DEFA.“ In der „Berliner Zeitung“ vom 23. Dezember 1961 las man: „Das Knusprigste daran sind die Brote und Brötchen. Ansonsten ist das Ganze sehr zäh zusammengerührt. Über Konflikte, die ja wohl auch ein Lustspiel haben muß, wird in Windeseile hinweggehuscht. Dafür gibt es Gags aus der Zeit, als alle Brote noch mit der Hand in den Ofen geschoben wurden, und Szenen über Szenen, deren Funktion sicher auch keinem der Beteiligten recht klar war.“
Sicher ist der Streifen kein Meilenstein der Filmkunst – aber so schlecht nun auch wieder nicht. Insbesondere die Bildgestaltung ist einfallsreicher als die lustlos und unbeholfen zusammengeschusterten „Revuefilme“ mit ihren uninspiriert in Totalen abgefilmten Musiknummern, die seinerzeit in der Bundesrepublik entstanden. Oder die dort produzierten Schlagerfilme. In „Eine Handvoll Noten“ gibt es immerhin eine Traumsequenz.
Man fragt sich, ob die von den staatlich gelenkten DDR-Medien beschäftigten Kritiker sich hier einmal abreagieren wollten – was bei einer solchen Unterhaltungsproduktion natürlich gefahrloser möglich war als bei Propaganda- und Prestigewerken der DEFA.
Nichtsdestoweniger: Von Otto Schneidereit, der insbesondere als Librettist und Autor von Büchern über Musikthemen von sich reden machte, wurden offenbar keine weiteren Spielfilmdrehbücher realisiert. Als Regisseur war er wohl nicht von vornherein vorgesehen: Daß er „nach langwierigem Herumdoktern an diesem Streifen auch die Regie übernahm“, liest man in der erwähnten Kritik der „Berliner Zeitung“. Helmut Spieß, den Schneidereit aus dem Regiestuhl verdrängte, starb im März 1962.
Tatsächlich mag man kaum glauben, daß kurz nach diesem Film ein Meisterwerk wie „Revue um Mitternacht“ entstand, von dem „Eine Handvoll Noten“ Welten zu trennen scheinen. Und nur fünf Jahre später ein so durchgedrehtes Musical wie „Hochzeitsnacht im Regen“.
Andererseits: Gerade das etwas Biedere und Brave, das umfassende Fünfziger-Jahre-Ambiente, die goldstichigen Agfacolorfarben verleihen „Eine Handvoll Noten“ aus heutiger Sicht einen besonderen nostalgischen Glanz. Und eine Rarität ist der Streifen allemal, ein weitgehend vergessenes Puzzlestück in der Musikfilmgeschichte der DEFA, welches man womöglich so bald nicht wieder zu sehen bekommt.
J.G.
Mehr zu diesem Film hier.
Quellen der filmographischen Angaben: Originalvorspann, „Berliner Zeitung“ vom 24. Dezember 1961.
Bilder aus dem Film (Progress-Filmverleih).