Rarität des Monats Dezember 2013
Die Auswahl an Berlin-Filmen, die in den Kinos wie im Fernsehen läuft, wird immer kleiner. Das Filmbild der Stadt wird dementsprechend von immer weniger Werken geprägt. Und immer mehr Berlin-Filme, darunter auch bedeutende, geraten in Vergessenheit.
Deshalb und um zu zeigen, daß Berlin-Film-Katalog nicht nur auf Geld wartet, gibt es den Jour fixe des selten gezeigten Berlin-Films: Seit Juni 2012 wird jeweils am zweiten Montag im Monat im Brotfabrikkino eine Berlin-Film-Rarität präsentiert.
Am 9. Dezember 2013 um 19.30 Uhr und vom 12.-15. Dezember 2013 um 22 Uhr lief
Warum Ulli sich am Weihnachtsabend umbringen wollte
D 2005 – 90 Min. – DV (16:9) – Farbe
Regie, Buch: Edwin Brienen. Regie, Buch: Edwin Brienen. Kamera: Ralf H. Schlotter. Ton: Johannes Krämer, Romek Watzlawik, Christoph Greiner. Tonmischung: Johannes Krämer, Immanuel Aldag. Maske: Susanne Obermair, Ditte Wichmann, Katrin Schneider. Team New York City: Robert Manos, Georgette Blau. Schnitt: Ralf H. Schlotter, Edwin Brienen, Ushi Gutter. Song „Lonely Christmas“: Text und Musik: Arling & Cameron. Produktionsleitung: Welpe. Dank an Suzanne Jansonius, Tobias Castorph, Richard Cameron, Karin Ras, Nadja Oussaid, Galileo Medien AG, www.cinesto.de, Claus Löser.
Darsteller: Marin Caktas, Tomas Sinclair Spencer, Ades Zabel, Laura Tonke, Esther Eva Verkaaik, Nicole Ohliger, René Ifrah, Niels Bormann, Malah Helman, Hendrik Arnst, Lydia Steier, Chaim Levano, Eva Dorrepaal, Welpe, Kerstin Schönbeck, Kruno Vrbat, Hail Klaus Nomi.
Produktion: Ultra Vista Film.
Projektion eines digitalen Datenträgers. Originalfassung in Deutsch und Englisch mit deutschen bzw. englischen Untertiteln.
Weihnachten naht. Und Ulli hat einen Horror davor, den Heiligabend allein verbringen zu müssen. Also macht sich der nette, hübsche, aber etwas unbeholfene junge Mann auf die Suche nach Gesellschaft, was zu einer Odyssee durch ein wahrlich bitterkaltes Berlin wird. Edwin Brienen, Wahl-Berliner aus den Niederlanden, drehte diesen Film in der Vorweihnachtszeit 2005 – und stellte ihn noch rechtzeitig zum damaligen Fest fertig. Das Ergebnis ist eine böse-bissige Tragikomödie, voller Perlen der heiter-verzweifelten Beschreibung menschlicher Beziehungslosigkeit und Beziehungsunfähigkeit. Ein ungewöhnlicher Weihnachtsfilm, der es längst verdient hat, wiederentdeckt zu werden.
Unser Flyer zu diesem Film. Sie dürfen ihn gern herunterladen, ausdrucken, verteilen oder einrahmen und an die Wand hängen.
Weitere Informationen hier.
Präzises Husarenstück
Im Dezember zeigt Berlin-Film-Katalog, passend zur Jahreszeit, „Warum Ulli sich am Weihnachtsabend umbringen wollte“ von Edwin Brienen, einem der produktivsten Berliner Filmemacher der jüngeren Zeit, vor acht Jahren im Advent gedreht und sicher einer der am schnellsten realisierten abendfüllenden Filme aller Zeiten. Die Idee zu ihm war im Oktober 2005 entstanden, parallel zu den Dreharbeiten fanden der Schnitt und die weitere Nachbearbeitung statt, so daß der Streifen rechtzeitig zu Weihnachten 2005 seine Premiere feiern konnte. Dadurch entstand ein ganz ungewöhnlicher Effekt: Man sah auf der Leinwand einen abendfüllenden Spielfilm von Hier und vor allem Jetzt, also aus der unmittelbaren Gegenwart. Einerseits währte dieser Effekt in seiner voller Form natürlich nur kurz. Andererseits ändert sich die Alltagsästhetik ja mittlerweile nur noch sehr langsam – wenn überhaupt noch –, und deshalb ginge „Warum Ulli sich am Weihnachtsabend umbringen wollte“ eigentlich auch als Film von 2013 durch. (In einer Szene sollte man sich freilich daran erinnern: Angela Merkel war Ende 2005 noch nicht Deutschlands geliebte Über-Mutti, sondern gerade erst Kanzlerin geworden und die CDU damit nach sieben Jahren aus der Opposition in die Bundesregierung zurückgekehrt.)
Einen Film in so kurzer Zeit zu realisieren, funktioniert selbstredend nur mit entweder sehr großem oder aber sehr kleinem Aufwand – vor allem die relativ langen Szenen mit relativ viel Dialog verraten, daß auf „Warum Ulli...“ letzteres zutrifft, sind sie doch typische Zeichen von Low-Budget-Produktionen. Edwin Brienen hat dabei jedoch aus der Not eine Tugend gemacht – so es denn überhaupt eine Not war: lange, textlastige Szenen finden sich ja häufig in seinen Filmen –, denn die Szenen breit auszumalen, ist bei diesem Streifen unbedingt erforderlich, damit sich der ganze Wahnsinn, nicht selten auch die ganze Peinlichkeit der jeweiligen Situation entfaltet und die psychischen Deformationen der Figuren deutlich werden. Hinzu kommt eine ambitionierte, einfallsreiche Photographie: die Kamera ist hier eben nicht festgenagelt und filmt in langen Einstellungen aus der immergleichen Normalperspektive, mal in Nah-, mal in Großaufnahme, einfach ab, was geredet wird – im Gegensatz zu den meisten deutschen Filmproduktionen, auch und gerade zu solchen, die ungleich mehr Geld zur Verfügung haben (und wo dann auch nicht überall der gleiche Weihnachtsbaum steht, was hier freilich auch zum Running Gag ebenso avanciert wie zum Kommentar auf die vorgefertigten Formen des durchkommerzialisierten Festes).
Ferner findet man in „Warum Ulli...“, neben einem düsteren Blick auf Zeit, Gesellschaft, Menschen, der Vorliebe für lange Szenen und Dialoge oder auch Monologe, einige weitere typische Brienen-Zutaten: Etwa den Hang zu Musikeinlagen, auch Gesangsnummern, und einen Faible für Popmusik und deutsche Schlager. Nicht zuletzt erscheint das Ende des Films als recht Brienen-typisch. Verglichen mit anderen Filmen des Niederländers ist „Warum Ulli...“ sicher eine seiner eingängigeren, auch unterhaltsameren Arbeiten, zwar eine düstere Tragikomödie, aber eben doch ganz deutlich auch eine Komödie. Als Stationendrama, das einen recht kurzen Zeitraum umschließt und sich um einen jungen Mann dreht, der etwas verloren und hilflos durch ein Berlin stolpert, das – in erfreulich menschenfeindlicher, da realistischer Zeichnung – von Verrückten und Gestörten bevölkert wird, erinnert „Warum Ulli...“ recht stark an Jan Ole Gersters „Oh Boy“; nur mit dem Unterschied, daß Brienens Film überzeugender ist, konsequenter in seiner Haltung, Handlung und Figurenzeichnung, sowie weniger gespreizt in seiner Machart.
Womit wir bei der Frage wären, wie Filme wahrgenommen werden: von den Medien, in der Öffentlichkeit. Vor allem auch: Welche Filme wahrgenommen werden, wie beschränkt mittlerweile das Interesse bereits der Kritiker ist (von dem des Publikums ganz zu schweigen), wie das Immergleiche und die Immergleichen bejubelt werden und man andere und anderes nur ganz kurz, ganz am Rande behandelt – wenn überhaupt. So kommt es dann beispielsweise, daß der eine Film immer noch einen Preis bekommt und der andere ein Geheimtip bleibt.
Dabei hätte bei „Warum Ulli...“ allein schon das großartige Ensemble mehr Aufmerksamkeit und Applaus verdient, auch wenn den meisten Darstellern die Rollen auf den Leib geschrieben wurden – wobei das „Schreiben“ hier nur im übertragenen Sinne zutrifft. Wurde doch nach Vorgaben des Regisseurs und Drehbuchautors improvisiert, und dennoch sind die immer wieder von Situationskomik geprägten Szenen, Dialoge und Darstellungen sehr präzise. Man sollte nur mal, um ein Beispiel aus den ersten Filmminuten zu nennen, darauf achten, wie Laura Tonke als überrumpelte, belästigte Nachbarin eher nebenher, also auf ganz natürlich wirkende Art, eine zunehmend abwehrende Haltung einnimmt, erst einen Arm an die Schulter legt, unter dem Vorwand, sich dort zu kratzen, dann beide Arme verschränkt und schließlich dazu ansetzt, ihre Wohnungstür zu schließen. Es gibt in diesem Film, der auf den ersten Blick wirken könnte, als wäre er ganz einfach so heruntergedreht worden, viele Beispiele für derart exakte Darstellung.
Am meisten davon zeigen kann natürlich, als Hauptdarsteller, Marin Caktas: Er verkörpert diese Rolle hervorragend, und auch hier darf man wieder über Wahrnehmung und Wertschätzung sinnieren und sich fragen, weshalb man ihn nicht öfter vor einer Kamera sieht. Nicht zuletzt durch seine großen, ausdrucksstarken Augen hat er etwas Buster-Keaton-haftes, als Ulli stolpert er durch sein Leben und durch ein wahrlich bitterkaltes Berlin und scheint nicht so recht zu begreifen, wie ihm eigentlich geschieht.
J.G.
Quelle der filmographischen Angaben: Originalvorspann. Nach Auskunft Edwin Brienens gegenüber Berlin-Film-Katalog kürzte er den Film nach dessen Erstaufführung um rund eine Viertelstunde auf die jetzige Länge .
Bilder: Ultra Vista Film.