Berlin-Film-Katalog

(in Vorbereitung)

Rarität des Monats April 2023

Die Auswahl an Berlin-Filmen, die in den Kinos wie im Fernsehen läuft, wird immer kleiner. Das Filmbild der Stadt wird dementsprechend von immer weniger Werken geprägt. Und immer mehr Berlin-Filme, darunter auch bedeutende, geraten in Vergessenheit.
Deshalb und um zu zeigen, daß Berlin-Film-Katalog nicht nur auf Geld wartet, gibt es den Jour fixe des selten gezeigten Berlin-Films: Seit Juni 2012 wird jeweils am zweiten Montag im Monat im Brotfabrikkino eine Berlin-Film-Rarität präsentiert.


Vom 10.-12. April 2023 (am 10. - Ostermontag - in Anwesenheit von Klaus Tuschen) jeweils um 18 Uhr lief



Frontstadt
BRD 1981/1982 – 94 Min. (1075 m) – 16 mm (1:1,33) – Farbe

Regie, Buch: Klaus Tuschen. Kamera: Hans Rombach, Hans-Jörg Reinel. Musik: Rosachrom, Insisters, Tempo, Escalatorz, Stretto. Garderobe: Boutique BCBG. Frisuren: Horst Chudy. Unter Mitarbeit von Bernhard Winkler, Hossein Honarmand, Lothar-Michael Peter, Sabine Sikorski, Gritli Schintlholzer, Asil Basyildiz, Hans-Peter Sorge, Christian Lorenzen, Ulli Fischer, Wolfgang Becker u.a.

Darsteller: Raimund Büchner, Heinz Krüger, Sibylle Kos, Peter-M. Scheibner, Bruno S., Joy Rider, Elke Ebbert, Roland Stoos, Lianne Kuenne, Rainer-G. Otto, Alfred Rogacki, Norbert Wendling, Reinhard Konzack, Armin Haase, Knuth Hoffmeister, Bernd Feuerhelm, John Vaughn, Fritz Wester, Udo Heinemann, Hans Joachim Neumann, Pit Goeller, Oliver Nisch, Klaus Engelhardt u.v.a.

Produktion: Tupro-Weltklang-Cine. Produzent: Klaus Tuschen.

Erstverleih: Eigenverleih.

Uraufführung: 7. Januar 1983, Berlin, Kant-Kino.


Berlin tut gut. Als dieser Slogan der Tourismuswerbung gerade erst entsteht, läßt ein frustrierter Mitarbeiter eines Wohnungsbaukonzerns 1982 seine Familie in Westdeutschland sitzen und sich in die Inselstadt versetzen. Begeistert von ihrem umfangreichen Kultur- und Nachtleben, tut ihm Berlin aber bald gar nicht mehr gut: Er versumpft jede Nacht, vernachlässigt seine Arbeit, und auch sein Versuch, wieder als Saxophonist zu glänzen, führt nicht sehr weit. Die verflossene Flamme, bei der er zunächst untergeschlüpft ist, schlägt sich derweil mit einem notorisch untreuen Musikjournalisten herum, der nicht nur von einer alternativen Stadtillustrierten unmoralische Angebote erhält. Noch zielloser treibt ein junger Punk durch die Stadt, den der Ex-Wessi kennenlernt, als der Punk von zwei Zivilpolizisten auf Privatstreife zusammengeschlagen wird. Alle sind frustriert und umgetrieben von der Dauersorge, ihren Biß zu verlieren, müde und bürgerlich zu werden, denn nach dem Scheitern der großen Weltverbesserungsträume, die man um 1970 hegte, hat der Rückzug ins Private Konjunktur.

Wie cool Berlin (West) vor vierzig Jahren dennoch war (oder auch nur sein wollte), hielt Klaus Tuschen mit „Frontstadt“ eindrucksvoll fest. Zwar war die zeitgenössische Kritik zum Teil genervt: Berliner beklagten, die Stadt werde als Kuriositätenkabinett dargestellt, Westdeutsche reklamierten, in jüngster Zeit schon diverse ganz ähnliche Filme gesehen zu haben, in denen diverse „Scenes“ der Halbstadt, Musikschuppen, Videospielhallen und schick unterkühlte Lokale in kaltem Neonlicht vorgeführt wurden – Berlin-Reklame zwischen Punk und New Wave, mit kaputten Typen und kaputten Vierteln, aber auch den üblichen Postkartenmotiven, alles festgehalten am Vorabend der Postmoderne, die sich in der ironischen Verwendung des Begriffs „Frontstadt“ schon ankündigt (wobei man darin auch den Anspruch erkennen kann, die einstige Frontstadt des Kalten Krieges nun als Frontstadt der Avantgarde zu verstehen).

Doch die mangelnde Originalität des Sujets, die Schwachbrüstigkeit der lose miteinander verwobenen Geschichten, erst recht das Vorführen von Szenen, Lokalen, Bands, kurzum: alles, was seinerzeit dem Film von manchen angelastet wurde, macht aus heutiger Sicht seinen hohen dokumentarischen Wert aus. Indem er eher wenig spektakulären Alltag schilderte, hielt der Regisseur, Drehbuchautor und Produzent Klaus Tuschen viel davon fest, wie man um 1980 in West-Berlin lebte, dachte und redete, wenn man zumindest halbwegs jung war und sich für cool, hip, alternativ, schick, vielleicht sogar rebellisch und kulturbeflissen hielt – kurzum: für eine „progressive Type“.

Ausgestattet mit gerade einmal 55.000 Mark (zusammengespart und zusammengepumpt) sowie mit vielen Laiendarstellern, konnte Tuschen auch kaum anders, als möglichst dicht an der Wirklichkeit zu bleiben und einen entsprechend authentischen Film zu schaffen. Dazu bei trugen die – teils selbstironischen – Auftritte diverser Szeneprominenz, die heute freilich oft erklärungsbedürftig sind.

Dennoch entfaltet „Frontstadt“, 1981/1982 gedreht, vier Jahrzehnte später natürlich auch nostalgischen Reiz. Und schon damals lobte Hans-Christoph Blumenberg in der „Zeit“ (Nr. 33/1983): „Tuschen kennt sich aus, er gehört wohl selber zu dieser in vielen Verkleidungen schillernden Neon-Welt. Aber sein Film ist mehr als ein Poesie-Album für Insider. Er ist, meistens jedenfalls, von lakonischem Witz, manchmal auch melancholisch, selten albern, immer mit einem genauen Gespür für den Jargon und die Stilisierungen der Streuner auf ihren kleinen Fluchten.“ Gesamturteil: „Beachtlich.“


Unser Flyer zu dieser Rarität. Sie dürfen ihn gern herunterladen, ausdrucken, verteilen oder einrahmen und an die Wand hängen.





Quellen der filmographischen Angaben: Filmlänge, Filmformat: Fischer Film-Almanach 1984. Verleih: Filmbeobachter Nr. 4/1983. Uraufführung: Anzeige im Tip Nr. 1/1983. Alle anderen Angaben: Originalabspann (Sibylle Kos im Originalvorspann und auf dem Plakat „Sybille“ geschrieben).

Photos: Tupro-Media.